Lesung gegen das Vergessen

Julia Schwarzbach und Sanly Le (v.re.) wurden bei der Lesung vom Flötenensemble Cantarelli begleitet.Foto: privat

Julia Schwarzbach und Sanly Le (v.re.) wurden bei der Lesung vom Flötenensemble Cantarelli begleitet.Foto: privat

Es war keine gewöhnliche Lesung am vergangenen Samstag in der Talkirche. Die ernsten Minen im Publikum nahmen vorweg, was die jüdische Autorin Evelina Merová in ihrem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch „Lebenslauf auf einer Seite“ zu berichten weiß.

1930 in Prag geboren erzählt sie, in welchem Ausmaß die Machtergreifung der Deutschen in der Tschechoslowakei ihr Schicksal und das ihrer Familie bestimmte. Sie schildert darin lebhaft das Geschehen im Ghetto Theresienstadt und im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau sowie in den Arbeitslagern Stutthof, Dörbeck und Guttau. Als Einzige ihrer Familie überlebte sie den Holocaust, die von den Nationalsozialisten systematisch betriebene Massenvernichtung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und in den eroberten Gebieten.

„Harte Kost“, sagte Pfarrerin Heike Schuffenhauer, „die wir uns nicht ersparen dürfen“. Denn 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz dank russischer Soldaten, seien viele Jugendliche schon nicht mehr informiert über den Holocaust im Dritten Reich, der sechs Millionen Juden das Leben gekostet habe. Allein in Auschwitz-Birkenau wurden mehr als eine Million Menschen ermordet. „Es ist wichtig, dass wir Bescheid wissen, wachsam sind und widerstehen“, so die Pfarrerin.

Im Altarraum der Kirche saßen die beiden jugendlichen Vorleserinnen Julia Schwarzbach, die ihre Stimme bereits in einer Theaterschule in Oberursel ausbilden konnte, sowie Sanly Le in Vertretung für Isabel Bouillon. Das Cantarelli Ensemble mit Katrin Jakobi und Leiterin Mechthild Rupp an der Flöte, sowie Christine Schütz an Piano und Flöte spielten in den Lesepausen Werke von Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy oder Clara Schumann. Es war die vierte „Lesung gegen das Vergessen“ in dieser Konstellation.

„Bist Du bei mir“ von Bach erklang, bevor Julia Schwarzbach mit ihrer glockenreinen Stimme begann, aus dem Buch der Holocaust-Überlebenden vorzulesen.

Evelina Merová, so war zu erfahren, verlebte eine glückliche Kindheit in Prag. Nach dem Einmarsch der Deutschen in der damaligen Tschechoslowakei im Jahr 1939 schränkten die Nationalsozialisten das jüdische Leben ein. Es begann damit, dass Evelina nur noch die jüdische Schule besuchen durfte. Dann musste die Familie umziehen, da Juden nur noch in bestimmten Vierteln wohnen durften. Ab September 1941 mussten zudem alle Juden einen gelben Stern am Revers tragen und ihr ganzes Vermögen abgeben. Selbst Haustiere durften sie nicht mehr halten. Deshalb musste sich Evelina von ihrem Kanarienvogel trennen.

Evelina Merová verlor ihre ganze Familie im Holocaust

Sie durften nicht mehr Bus und Bahn fahren, in Cafés und Restaurants gehen und mussten bestimmte Straßen und Plätze meiden.

Als die elfjährige Evelina im Juni 1942 mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert wurde – offiziell hieß es „evakuiert“ – nahm sie ihr geliebtes Poesiealbum mit. Ihr Großvater hatte ihr darin einst einen Vers mit auf den Weg gegeben: „Poesie soll sein, was in diesem Büchlein steht, Poesie soll alles sein, was in deinem Leben geschieht“. Doch das, was ihr bevorstand, war alles andere als Poesie.

In Theresienstadt wurde die Familie getrennt. Ihr Vater wohnte in der Sudetenkaserne, der Kaserne nur für Männer, sie mit ihrer Mutter zunächst in der Hamburger Kaserne, bis sie in das Kinderheim für Mädchen wechselte. Dieses Kinderheim in jüdischer Selbstverwaltung, Zimmer 28 genannt, bescherte ihr auch einige fröhliche Momente, wie die Aufführung der tschechischen Kinderoper Brundibár.

Doch das Leben im völlig überfüllten Ghetto forderte seinen Tribut, Epidemien brachen aus. Evelina litt unter Enzephalitis, auch „Schlafkrankheit“ genannt, bevor sie mit ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Die Fahrt im plombierten Viehwaggon behielt sie als besonders grausam in Erinnerung. Nach der Ankunft mussten sie das Gepäck im Waggon zurücklassen, nichts blieb für das Leben im Konzentrationslager Ende Dezember 1943, auch nicht das Poesiealbum. Die Nummer 71266 wurde ihr in die Haut tätowiert. Von Mitinsassen erfuhr sie, dass sie nur „durch den Kamin als Rauch“ herauskommen könne, aber das wollte sie nicht glauben.

Später stellte sich heraus, dass – während andere sofort an der Rampe selektiert wurden – für das Familienlager eine besondere Frist galt: Ein halbes Jahr Quarantäne, dann „S.B.“, „Sonderbehandlung“ nannten die SS-Schergen die Vergasung von Menschen. Unter den extremen Lebensbedingungen im KZ, Hunger, Kälte und Angst, starb im April 1944 Evelinas Vater an Tuberkulose. Mutter und Tochter verblieben zunächst im Frauenlager, überstanden die letzten Selektionen und wurden mit dem letzten Transport weg von den Gaskammern in ein anderes Lager gebracht, ins KZ Stutthof bei Danzig.

Dort wurde eine Gruppe von 1000 Frauen zum Ausheben von Panzergräben schließlich nach Dörbeck verbracht, danach ins polnische Guttau. Dort erlebte Evelina mit dem Tod der Mutter den Tiefpunkt ihres Lebens. Völlig geschwächt starb diese von einer Sekunde auf die andere, während ihr die Haare geschoren wurden.

Evelina hatte unterdessen keine Schuhe mehr, wurde aber zu längeren Märschen barfuß durch den Schnee gezwungen. Die Lagerärztin empfahl, die schwarzen mit eitrigen Wunden übersäten Füße zu amputieren. Doch dazu kam es nicht, denn es gab keine Transportmöglichkeit mehr. Die Russen waren auf dem Vormarsch und es war nur eine Frage von Tagen, bis das KZ befreit werden würde. Wieder spielten sich Tragödien ab. Bevor die SS abzog, rief sie die Frauen zum Abmarsch „mit allen Sachen“ auf, um sie dann zu erschießen oder zu erschlagen. Da Evelina nicht laufen konnte, war sie in der Unterkunft allein zurückgeblieben. „Wieder einmal großes Glück gehabt“, schreibt Evelina in ihrem Buch.

Als die Russen kamen, waren nur noch 30 bis 60 von den 1000 Frauen übrig, die vorher ihr Lager in Stutthof aufgeschlagen hatten.

Das Ende des Krieges erlebte Evelina mit 14 Jahren in der russischen Stadt Sysram. Doch richtig freuen kann sie sich nicht: „Es war, als ob sich ein Schleier der Dunkelheit auf meine Vergangenheit gelegt hatte, auch auf die Zukunft“.

Ihre Zukunft als Adoptivtochter des russischen Kinderarztes Dr. Mer in Leningrad war damals schon beschlossene Sache. Eigentlich sehnte sie sich zurück nach Prag, doch da, so machte ihr Dr. Mer klar, gebe es für sie „kein Zuhause“ mehr.

Im zweiten Teil des Buches beschreibt sie ihr Leben in Leningrad. Sie war eine fleißige Schülerin und schloss ihr Abitur mit sehr guten Leistungen ab. Eigentlich wollte sie Tschechisch studieren, doch an der Leningrader Universität gab es am Fachbereich Slawistik keinen Studienplatz für sie. Sie vermutete, dass ihre Nationalität als Jüdin bei der Auswahl eine Rolle spielte und der bei der Bewerbung geforderte Lebenslauf auf einer Seite den Erwartungen der Kommission nicht entsprach. Damals kam ihr erstmals der Gedanke, alles Erlebte aufzuschreiben. Doch erst 50 Jahre nach den Geschehnissen fand sie die Kraft dazu.

Sie begann ein Studium an der Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen in romanischer Sprache und wechselte nach Schließung der Fakultät zur Germanistik. „Ausgerechnet Germanistik“, so endete die Lesung von Julia und Sanly im Chor.

Sie wurde Hochschullehrerin für Germanistik in Leningrad – heute Sankt Petersburg – und gründete eine Familie mit Simion Naimark. Aus der Ehe stammen zwei Kinder. Ihr Sohn, der Künstler Viktor Naimark, der seit 1990 in Frankfurt lebt, war bei der Lesung anwesend. Die Autorin selbst ist im vergangenen Jahr im Alter von 93 Jahren verstorben.

„Ich kenne des Buch nun schon fast auswendig“, sagte Naimark, „aber es ist schwierig für mich zu erfassen, was es bedeutet, das alles zu ertragen“, sagte er. Sie habe großes Glück gehabt, ein langes Leben, eine Familie, das Wiedersehen mit Prag. „Auch wenn wir das Grauen nicht nachempfinden können, sollten wir es nicht vergessen.“

Er berichtete, dass sie erst bei Besuchen bei ihm in Frankfurt entscheidende Barrieren überwinden konnte, um sich an die Zeit in den KZ zu erinnern und über ihre einschneidenden Erlebnisse zu schreiben. Ihr Name auf dem Buchtitel, Evelina Merová, legt Zeugnis ab, dass ihr Lebensweg sie zurück in die Heimatstadt Prag führte. Aus ihrem russischen Nachnamen „Mer“ wurde das bisher für Frauen in Tschechien übliche „Merová“ mit der Nachsilbe „ova“. Nach ihrer Pensionierung 1995 lebte sie in Prag und pendelte nach Frankfurt, um ihren Sohn zu sehen, und nach Sankt Petersburg zu ihrer Tochter Irene.

Schuffenhauer kündigte bei ihren Abschiedsworten für Samstag, 15. Februar, um 11 Uhr eine Kundgebung für Demokratie und Freiheit vor dem Rathaus in Vockenhausen an.mi

Kundgebung für Demokratie

Der Asylkreis Eppstein lädt zu einer Kundgebung für mehr Demokratie ein am Samstag, 15. Februar, um 11 Uhr. Treffpunkt ist vor dem Rathaus I in der Hauptstraße 99 in Vockenhausen.

Der Asylkreis tritt ein für ein buntes und tolerantes Eppstein und wirbt für die Teilnahme an der Bundestagswahl und die Wahl von demokratischen Parteien. Eingeladen sind auch Kirchengemeinden, Schulen und als Vertreterin der Bürgerschaft Stadtverordnetenvorsteherin Andrea Sehr. Das Bündnis Main-Taunus gegen rechts will mit einem Infostand dabei sein.

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