Was bleibt – Geschichten über den Grabesrand hinaus

Oliver Fleischer liest aus seinem Buch „Der Oma hätte das gefallen“.Foto: U. Kindermann

Oliver Fleischer liest aus seinem Buch „Der Oma hätte das gefallen“.Foto: U. Kindermann

Im Rahmen von „Leseland Hessen“ stellte der Schauspieler und Autor Oliver Fleischer am vergangenen Samstag sein Buch „Der Oma hätte das gefallen“ im Blauen Saal im Rathaus Vockenhausen vor.

Verlegt wurden die nachdenklich-kuriosen Erlebnisberichte aus seiner Nebentätigkeit als Sargträger vom Paderborner Bonifatius Verlag.

Ein Schauspieler ist jemand, der auf der Bühne viele Tode stirbt: Ob vergiftet als König Claudius oder an Altersschwäche sterbend wie der Gelehrte Faust, sobald sich der Vorhang schließt, steht der Schauspieler wieder auf und bestellt in der Kantine eine Rindswurst. Umso interessanter ist die Tatsache, dass sich Schauspieler Oliver Fleischer mit der irdischen Vergänglichkeit konfrontiert, indem er bei Trauerfeiern die Rolle eines Sargträgers übernimmt.

Vielleicht mussten deshalb ganze Stuhlreihen im Blauen Saal des Rathauses I in Vockenhausen nachgestellt werden, weil außergewöhnlich hohes Interesse an diesem Thema bestand. Das Lesepult präsentierte sich mit bordeauxroter Tischdecke und sorgfältig drapierten Lampionblumen. Diese stehen für Wohlstand und Glück. Auch wenn sie als Trockenstrauß nicht verwelken, verblassen sie mit der Zeit und sind doch ein Symbol für Endlichkeit, in deren Zeichen die gesamte Lesung stand.

Im Namen des Kulturkreises Eppstein begrüßte Kristine Zabel die Anwesenden. Unter viel Applaus betrat Oliver Fleischer die Bühne.

Eigentlich war es seine Ex-Schwiegermutter, die ihn auf eine Annonce im Kirchenblatt hinwies, in der Sargträger gesucht wurden. Auf Friedhöfen dominiert bedrückte Stimmung. Sterben ist uncool. Deswegen leidet die Branche unter Nachwuchsmangel. Oliver Fleischer bekam die Stelle und hat es nie bereut.

Schon seit über einem Jahrzehnt wohnt er nun Inszenierungen bei, die für den verstorbenen Menschen stets die letzte ist, ein Ablauf, der nicht geprobt wird. „Meine Sichtweise auf Leben, Tod und den Moment hat sich verändert. Ich stehe nicht im Rampenlicht, aber alle Blicke sind auf mich gerichtet“, so erklärte Oliver Fleischer den Balanceakt zwischen Emotion, dem Anheben, Tragen und Herabsenken eines Sarges.

„Olli, wat du hier erlebst, da kannste ein Buch drüber schreiben“, versicherte man dem Neuling. Dieser griff die Idee auf. Sein Buch „Der Oma hätte das gefallen“ ist Rückblende, Trostschenker, ein in Papier gebundenes „Memento mori“, eine Anleitung, sich sinnbildlich nicht zu vergraben, sondern zwischen den Gräbern zu tanzen. Selten wurde das Eppsteiner Publikum einem solchen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt.

Da ist die Anekdote vom Katafalk auf Abwegen, wie dieser, als die Last des Sarges bereits auf den Schultern der Träger ruhte, ein Eigenleben entwickelte, auf leichter Anhöhe ins Rollen geriet und nur von einem aufopferungsbereiten Busch gestoppt wurde, bis jemand in die peinliche Stille sagte: „Das hätte der Oma gefallen“. So wandelte sich unterdrücktes Schluchzen zu liebevollem Gedenken. Die Hinterbliebenen einigten sich: ein actionreicher Moment wie dieser wäre ganz im Sinne der Oma. „Niemand ist ganz weg. Menschen leben in Geschichten weiter“, lächelte der Autor und wechselte den Schauplatz.

Eine Trauerhalle, geschmückt mit Luftballons und Kuscheltieren und die beklommene Ahnung, dass ein Kind beerdigt wird. Wo der Autor doch in der Bestattungsfirma ausdrücklich darum gebeten hatte, nicht zu Beerdigungen von Kindern geschickt zu werden. Doch da stand er nun, hatte zu diesem Zeitpunkt selbst eine siebenjährige Tochter und dort war den Eltern eine Tochter im gleichen Alter gestorben. Da ihr Bild voller Lebensfreude, dort der offene Sarg, an dem die Familie Abschied nahm. Schließen musste Oliver Fleischer den Sarg nicht. Hätte er es gekonnt?
„Das Gewicht so eines Körpers ist leicht, doch um wieviel schwerer wiegt die Trauer“, berichtete er. Vater und Großvater des Mädchens trugen den Sarg. Die Mutter klammerte sich daran. Es herrschten Angst, Hilflosigkeit und Wut. Doch auch Liebe, und diese lässt los, so wie die weinende Mutter ihr Kind. Zurück im Auto zerfloss die Anspannung in Tränen. Unvergesslich blieb für ihn das „Danke“ des Großvaters, der den Sarg seiner Enkelin trug. Zwei einfache Silben, die Oliver Fleischer seitdem im Herzen trägt.

„Der Dienst am Verstorbenen ist Dienst am Lebenden“, versicherte der Autor dem ergriffenen Publikum und nahm es gedanklich mit zu einem Grab, an dem der Schrei einer magenleidenden Ente zu hören war. Das quäkende Schnabeltier entpuppte sich als Dudelsackpfeifer mit verstimmter Pipe. Für Komik sorgte auch eine filmreife Szene, in der mehr als die Situation kippte, weil sich die Beinprothese eines Trägers beim Hieven des Sarges löste.

Das Publikum wurde auch Zeuge des Vorfalls, wie Oliver Fleischer selbst ins offene Grab stürzte und diesem vor den Augen einer entsetzten Friedhofsbesucherin wieder entstieg. Die Anwesenden waren als Zaungast bei der Totenfeier eines Großindustriellen mit Opernsängerin und Häppchen geladen, dessen Kinder nur über das Erbe sprachen. Erzählt wurde von einer katholisch-kanadischen Beerdigung, farbenfroh mit Tänzen. „Das Ende des Lebens wird gefeiert wie das Leben selbst“, erklärte der Geistliche das Gewimmel auf dem Friedhof. Wie ein Gegenpol wirkte dann der Gang mit der Urne ohne einen einzigen Trauergast.

„Was uns der Friedhof lehrt? Wir reden vom Leben wie von etwas, das irgendwann beginnt. Wenn der Tod einen findet, dann soll er hören, dass wir das Leben berührt, geschmeckt und geatmet haben.“ Begeisterter Applaus und angeregte Gespräche beendeten diesen ungewöhnlichen Leseabend.

Wer nach draußen in die Herbstnacht trat, spürte den Drang in sich, zu entscheiden, ob der Fokus des Lebens auf welken Laubhaufen oder auf den bunt verfärbten Baumwipfeln liegt, in denen die Amsel vom Frühling singt.

Im „Leseland Hessen“ gibt es noch einiges zu entdecken: am 18. Oktober eine Weinverkostung mit Andreas Wagner im Bürgerhaus Eppstein. Er liest aus seinem Roman „Die Präparatorin“. Am 26. Oktober ist Volker Klüpfel im Blauen Saal im Vockenhausener Rathaus I, mit seinem Buch „Wenn Ende gut, dann alles“ zu Gast. Beginn ist jeweils 19.30 Uhr.uki

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