Alla Serhiieva, die an der Universität von Charkiw Lehrbeauftragte ist, hatte die Museumsleiterin eingeladen, dort zu sprechen. Serhiieva musste wegen des russischen Angriffs aus der Ukraine flüchten und wohnt jetzt in Eppstein. Rohde-Reith berichtete über das Kriegsende 1945 in Eppstein und ihre Erkenntnisse bei der Befragung von Zeitzeugen. Sie erzählte, dass manche verbotene ausländische Sender gehört haben, um zu erfahren, wie weit die Amerikaner schon vorgerückt waren. Und dass noch in den letzten Kriegstagen ein Ehepaar aus Eppstein verhaftet wurde, weil es sich über die Aussichtslosigkeit, den Krieg zu gewinnen, geäußert hatte – und dafür in Eppstein denunziert worden war.
Wegen der anrückenden alliierten Truppen kamen beide in Häftlingstransporte. Der Ehemann, Paul Schiemann, überlebte den Gewaltmarsch nicht. „Nur ein Beispiel“, so Rohde-Reith, „für die Sinnlosigkeit des Krieges und den Irrsinn des nationalsozialistischen Regimes“ – und auch dafür, wie dessen langer Arm bis tief in die kommunalen Strukturen reichte.
Eines der Themen der Konferenz waren die Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs: Die Ukraine – auch die Stadt Charkiw – musste im Zweiten Weltkrieg größte Schäden und Verluste an Menschenleben ertragen, als sie von Sommer 1941 bis Frühjahr 1944 von der deutschen Wehrmacht eingenommen wurde, später bei der Gegenoffensive der Roten Armee, bei den folgenden Partisanenkämpfen und schließlich bei der Rückeroberung durch sowjetische Verbände.
Alla Serhiieva sagte, dass ihre Großeltern viel über die Verbrechen auch der russischen Armee während des Zweiten Weltkriegs gesprochen hätten, was sie lange nicht glauben konnte, weil in den Schulen die Geschichte der Ukraine auf eine für Russland vorteilhafte Weise gelehrt wurde. Erst als die Archive geöffnet wurden, sei ihr klar geworden, dass ihre Großeltern die Wahrheit gesagt hatten.
Ein weiteres Thema war die Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands in der Gesellschaft und in den Schulen. Die ukrainischen Studenten lobten, dass es eine Erinnerungskultur gebe wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin oder die vielerorts verlegten Stolpersteine, die an Einzelschicksale erinnerten.
In Deutschland gebe es viele Beispiele dafür, wie mit der Geschichte umgegangen werden sollte, betonte Alla Serhiieva. Sie führte aus, wie sehr ukrainische Lehrer, die heute in Deutschland Zuflucht finden, davon beeindruckt seien, wie historische Denkmäler erhalten bleiben und wie Geschichte in Schulen gelehrt werde.
Die Teilnehmenden an der Konferenz waren sich einig, dass es sehr wichtig ist, sich an die Historie der Ukraine zu erinnern. Leider habe man lange Zeit nicht die Möglichkeit gehabt, die Geschichte frei zu studieren, habe sehr lange an die russische Version geglaubt. Heute sei die Ukraine ein Beispiel dafür, was passiert, wenn Menschen ihre Geschichte vergessen, so der Konsens.
„Es ist der Wille, freiheitlich leben zu können, der auch die Menschen in der Ukraine antreibt, für den sie tapfer kämpfen. Sie kämpfen für unsere freiheitliche Lebensweise. Ich hoffe sehr, dass es bald einen Tag wie den 8. Mai 1945 für die Ukraine geben wird, einen Tag des Friedens und der Freiheit“, schloss Rohde-Reith ihre Rede, die von Alla Serhiieva für die teilnehmenden Lehrkräfte und Studierenden übersetzt wurde.
Kulturdezernentin Sabine Bergold begrüßte den Austausch. „Ich freue mich über die Zusammenarbeit unseres Stadtarchivs mit der Universität Charkiw. Die Aufarbeitung von Geschichte aus Originalquellen, wie sie in Archiven bewahrt werden, hat eine hohe Bedeutung“, so die Stadträtin.rr
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