Zum Duschen in die Schule nach Vockenhausen

Die Villa Paderstein von 1922 auf Hof Häusel mit ihrer expressionistischen Fassade.Foto: Burgmuseum Eppstein

Das Stadtarchiv Eppstein bewahrt nicht nur Akten auf. Es sammelt und dokumentiert auch Erzählungen und Berichte von Zeitzeugen.

Mitarbeiterin Sonja von Saldern hat in der vorigen Eppsteiner Zeitung ein Interview mit Gisela Blessmann geführt, einer Erzieherin im ehemaligen Kinderheim auf Hof Häusel. In unserer heutigen Ausgabe hat von Saldern mit Ulrike Gebhardt, Jahrgang 1951 aus Nordhessen, gesprochen, die im Alter von vier und sechs Jahren jeweils für sechs Wochen im „Kinderheim Hof Häusel“ zur Kur war und sich noch gut an die Kinderpflegerin Gisela Blessmann erinnert.

Zu dieser Zeit, von 1953 bis 1963, war das Kinderheim in der Villa Paderstein in Vockenhausen eine Einrichtung des Evangelischen Hilfswerks. Das Gebäude wurde nach der Flucht der jüdischen Familie Paderstein 1938 zunächst als privates Kinderheim genutzt. Während des Krieges war es Kindererholungsheim des Oberkommandos des Heeres, vermutlich auch für ausgebombte Kinder. Lucie Schneehagen und Marianne Schulze leiteten es und blieben auch nach dem Krieg Leiterinnen eines privaten Kinderheims, bis 1953 das Hilfswerk der evangelischen Kirche Hessen und Nassau die Villa kaufte.

Stadtarchivarin Monika Rohde-Reith betont, dass die Zeitzeugen subjektive Erinnerungen wiedergeben und, dass das Stadtarchiv weitere Zeugenaussagen sammelt zu den Jahren als die Villa Paderstein Kinderheim war. Seit 1963 ist die Villa Paderstein Sitz des Missionswerks des WEC (Weltweiter Einsatz für Christus), das noch viele Kontakte zu Zeitzeugen und früheren Bewohnerinnen und Bewohnern hält und eng mit dem Stadtarchiv zusammenarbeite, so Rohde-Reith.

Erst seit wenigen Jahren werde das Thema „Verschickungskinder“ bundesweit aufgearbeitet, sagt Rohde-Reith. Seit etwa 2019 suchen Betroffene zunehmend die Öffentlichkeit. Damals wurde die Initiative Verschickungskinder und die Internetseite verschickungsheime.de gegründet. Seit Juni 2023 ist die Initiative für Betroffene ein eingetragener Verein.

Das Eppsteiner Erholungsheim war nur eines von insgesamt weit über 1000 solcher Heime für sogenannte Kur- oder Erholungsaufenthalte für Kinder allein in Westdeutschland. „Wir haben gerade mit dem Sammeln von Informationen begonnen“, sagt Rohde-Reith. Sie räumt ein: „Bislang wissen wir wenig darüber, wie viele Kinder dorthin verschickt wurden und wie sie behandelt wurden“. Sie hofft, dass sich weitere Zeitzeugen beim Archiv melden.

Zwischen drei und zwölf Millionen Kinder kamen im Laufe von fast vier Jahrzehnten in solche Erholungsheime, meist nach Empfehlung von Haus- oder Schulärzten, zum Beispiel, weil die Kinder unterernährt waren oder an Asthma litten. In den Heimen wurde häufig mit drakonischen Strafen gearbeitet, um die Kinder gefügig zu machen. Viele litten unter Heimweh, durften aber die Eltern nicht kontaktieren. Während die Eltern dachten, ihre Kinder verleben erholsame Ferientage, durchlitten diese emotionale, oft genug auch körperliche Qualen. Diese absolute Trennung von zu Hause war anscheinend allgemeiner Konsens, wie die Erinnerungen von Ulrike Gebhardt zeigen.

Sonja von Saldern: Warum und wann sind sie zur Erholung ins „Kinderheim“ gekommen?

Ulrike Gebhardt: Zum ersten Mal verbrachte ich im August/September 1955 in Eppstein sechs Wochen. Kurz vor der Einschulung im Februar/März 1958 war ich zum zweiten Mal im Kinderheim. Ich musste viel essen, um an Gewicht zuzunehmen. Ich kann mich erinnern, dass es damals oft Haferflocken in Hof Häusel zu essen gab.

v. Saldern: Hatten Sie mit vier Jahren kein Heimweh?

Gebhardt: Schon, weil ich dachte, ich wäre allein, aber als wir über die Brücke bei der Bundesstraße gingen, entdeckte ich meine Mutter, die im Müttergenesungsheim in Eppstein zur Kur war. Meine Mutter hat mich dann immer besucht.

v. Saldern: Wie sah der Tagesablauf der Kinder aus?

Gebhardt: Im Sommer waren wir viel draußen und haben bei der Ernte zugesehen. Als ich zum zweiten Mal im Winter dort war, haben wir viel gemalt und mit schwarzem Papier Schneeflocken gebastelt. Nach dem Essen wurde zwei Stunden Mittagsschlaf in der Liegehalle gemacht, das fand ich langweilig. Das Duschen war meistens anstrengend. Wir mussten alle – auch im Winter – nach Vockenhausen in die Grundschule gehen (heutige Goldbach Apotheke). Dort gab es mehrere Einzelduschen, eine Gesamtdusche für mehrere Kinder und Räume mit Badewanne. Die Eppsteiner Bevölkerung ging samstags ebenfalls dort duschen, da viele Familien kein eigenes Bad hatten. Nach dem Duschen gingen wir mit nassen Haaren und einem Handtuch um den Kopf zurück ins Kinderheim, auch im Winter. Auf dem Weg stand oft der „Eukalyptusmann“. Er hat uns immer Eukalyptusbonbons zugesteckt, damit wir uns nicht erkälten, daher der Name.

v. Saldern: Gab es noch andere ungewöhnliche Ereignisse, an die Sie sich erinnern?

Gebhardt: Als ich 1958 im „Kinderheim Hof Häusel“ war, hatte ich einen schweren Unfall. Ich wollte das Licht vor dem zu Bett gehen selbst ausschalten, kam aber nicht an den Schalter, deshalb kletterte ich auf den Nachttisch, rutschte aus und fiel. Erst war ich bewusstlos. Als ich zu mir kam, sah ich das viele Blut, dann kam der Krankenwagen. Im Krankenhaus wurde ich gut versorgt, aber meine Eltern wurden nicht informiert. Ich erzählte erst davon, als ich wieder zu Hause war. Heute ist das unvorstellbar.

v. Saldern: Wurden die Kinder sanktioniert, wenn sie etwas angestellt haben?

Gebhardt: Die kleine Heidi hatte die Gardinen abgeschnitten. Sie wurde geschimpft, aber nicht geschlagen. Wenn ein Kind Kakao verschüttet hat, musste es die Flecken selbst aufwischen, sonst ist nichts passiert. Ich war gerne dort, besonders, weil ich die Kinderpflegerin Frau Blessmann kennenlernte.

v. Saldern: Was war an dieser Kinderpflegerin so besonders?

Gebhardt: Frau Blessmann war sehr liebevoll. Wir haben ein Krippenspiel mit ihr einstudiert, und sie hat mir beigebracht, meinen Namen zu schreiben. Meine Eltern hielten lange Briefkontakt zu ihr. Zeitweise brach der Kontakt ab, bis ich meine Kinderpflegerin von damals übers Internet wiederfand. Der Kontakt besteht bis heute.

v. Saldern: Wie ging Ihr Leben nach der Einschulung weiter?

Gebhardt: Nach der Realschule machte ich eine Ausbildung zur Großhandelskauffrau in Herborn. Dort habe ich meinen Mann kennengelernt und zwei Söhne bekommen. An die Kuraufenthalte in Eppstein erinnere ich mich gern zurück.

v. Saldern: Danke für das Interview.

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