Boomer, das sind Menschen, die zwischen 1950 und 1970 in den Jahren des Babybooms in Deutschland geboren wurden. Sie ständen kurz vor beige, aber liefen als frischgebackene Rentner oder Vorruheständler topfit immer noch in bunten Klamotten rum und könnten das Leben aus vollen Zügen genießen. Köstlich humorvoll und absolut aus dem Leben gegriffen, startete Reichow sein Programm mit einigen Verhaltensbeschreibungen.
Mit Wortwitz und rasant vorgetragenen Sätzen arbeitete er den Unterschied zwischen ihm und seiner Frau beim Restaurantbesuch heraus, widmete seiner Frau ein wunderschönes Liebeslied, berichtete von seinen Kindern, ließ die Erlebnisse seiner Jugend Revue passieren und malte kraftvolle Bilder in die Köpfe seiner Zuhörer. Seine wache Beobachtungsgabe gepaart mit wortgewaltiger Formulierkunst führte dem Publikum den ganz normalen Wahnsinn des Alltags vor Augen, angefangen vom Bestellvorgang mit QR-Code im hippen Lokal bis hin zu Hunden im Kinderwagen, hinter denen die Kinder auf kurzen Beinchen hinterher hechelten. Für Begeisterung sorgte seine Beschreibung eines typischen Chat-Verlaufs einer WhatsApp-Gruppe, die ursprünglich für die Organisation eines gemeinsamen Ausflugs gegründet worden war und mittlerweile mit tiefschürfenden Kommentaren in Form von Emoji-Smileys, bussi, bussi, Katzen- und Babybildern sowie besten Wünschen für einen schönen restlichen Abend um 23 Uhr nervten. Vom Plan, einen Ausflug zu organisieren, bis zur Chat-Gruppe dauere es gerade mal zehn Minuten, aber sich aus der Gruppe zu verabschieden, könne Freundschaften auf Jahre zerrütten. „Das ist zu 100 Prozent aus dem Leben gegriffen“, stimmte Angelika Ickstadt aus Vockenhausen zu.
Dann baute Reichow mit einem Lied über die ach so intelligente, kluge, nette und ideenreiche Bevölkerungsgruppe Boomer scheinbar das angekündigte Denkmal. Doch im weiteren Verlauf des Programms entpuppte sich das vermeintliche Denkmal als ein „denk-mal-nach“, denn Reichow war mit seinen Themen in der Gegenwart angekommen. Sein musikalisch untermalter Traum von einem Deutschland mit funktionierendem Bahnverkehr, intakten Brücken, mit kompetenten Fachkräften, erneuerbaren Energiequellen und offenen Menschen, die Fremden freundlich begegneten und deren Beitrag zur Gesellschaft wertschätzten, endete jäh in der Realität. Jetzt nahm er sein Publikum, eben mehrheitlich jene Boomer-Generation, in die Pflicht. „Wir brauchen bewegliche Boomer, die sich zu ihrer Verantwortung bekennen und Veränderungen wagen“, formulierte Reichow. Statt die Grünen zu verteufeln, solle man „zum Wohle unserer Kinder ihre Vorschläge zum Klimaschutz in Betracht ziehen“. Er forderte dazu auf, die eigene Intelligenz zu nutzen, sich Zusammenhänge klar zu machen, selbst zu recherchieren und keine KI-generierten, populistischen Phrasen zu übernehmen. Demokratie sei die wirtschaftlich erfolgreichste Gesellschaftsform und müsse mit aller Kraft verteidigt werden.
Reichow philosophierte locker und gleichzeitig sehr ernsthaft über Politik, Klimawandel, Zeitgeist und die Gefahren des immer stärker um sich greifenden Populismus. Würden alle ein bisschen zum Guten beitragen, dann würde die Welt schnell wieder voller Hoffnung sein. Boomer hätten Angst vor Veränderung. Aber sie seien gut ausgebildet, hätten Vermögen und damit Macht, notwendige Veränderungen herbeizuführen. Damit mehr positiver Schwung in die Gesellschaft komme, wünschte sich Reichow von der Presse mehr positive Nachrichten über Dinge, die funktionieren. Weniger Schlagzeilen über die Populisten dieser Welt würde diesen einen Teil ihres Einflusses nehmen.
Der sehr unterhaltsame, teils lustige, teils nachdenklich stimmende Abend wurde mit langanhaltendem Applaus belohnt.ffg
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