...entlang des Frankfurter Museumsufers liegt in Eppstein: Die beiden Avantgarde-Künstler Robert Michel und Ella Bergmann-Michel sind zwar keine Wegbereiter der Architektur des Neuen Frankfurts. Sie gehörten aber beide zu den Gestalterinnen und Gestaltern die damals in Frankfurt nach neuen Formen für Mode, Musik, Film, Fotografie sowie Produkt-, Raum- und Werbegestaltung suchten und Einfluss nahmen. Auf das Wirken der beiden Eppsteiner Künstler in dieser Zeit und ihre Kontakte zu zeitgenössischen Künstlern blickt die Ausstellung in Paris.
Beide Michels wirkten mit an der ästhetischen und gesellschaftlichen Neugestaltung im Sinn des Neuen Frankfurt. Rückblickend urteilte Robert Michel wohl deshalb über den Umzug im Jahr 1920 von Weimar nach Vockenhausen: „Da zogen wir weg in die Praxis.“ Praxis bedeutet für Michel die spätere Tätigkeit im Rahmen des Neuen Frankfurt mit Künstlern, Architekten, Grafikern um den Stadtbaurat Ernst May.
Michel, der sich zunehmend mit Werbegrafik, Typografie und Reklame beschäftigte, öffnete 1927 ein eigenes Atelier in der Frankfurter Kronprinzenstraße 8, nahe der Kaiserstraße, und wandte sich zunehmend der Architektur zu. Auf der Schmelzmühle gründete Michel mit Künstlerfreunden 1928 den Ring Neue Werbegestalter.
Die Architektin Lucy Hillebrand gab 1988 ein Interview für eine Ausstellung in Hannover über diese Jahre. Von 1928 bis 1930 arbeitete sie in Robert Michels Frankfurter Atelier, zeitweise an den gleichen Projekten wie Michel. Sie erinnert sich an Grundrisse für ein Einfamilienhaus oder eine Dapolin-Tankstelle, die die beiden anscheinend gemeinsam entworfen haben. Die beiden haben offensichtlich auch zusammen einen Beitrag für eine Ausstellung in Frankfurt zum Thema „Billige Häuser zu festen Preisen“ geschrieben und ein „Ehrenmal für die Toten des Ersten Weltkriegs“ entworfen.
Robert Michel (RM) faszinierte demnach die grafische Gestaltung und die Möglichkeit der Abstraktion in der Architektur. Daraus entwickelte er Grundrisse und Pläne. Michel hatte gute Kontakte zu etlichen Frankfurter Architekten, wie Adolf Meer oder Mart Stamm und seit einer gemeinsamen Hollandreise mit Kurt Schwitters auch nach Holland zu dem Architekten Bob Oud. Michel war Mitglied in der 1928 gegründeten Frankfurter Oktobergruppe, aus der ein Arbeitskreis „soziales Bauen“ hervorging. Allerdings, war Robert Michel, so Hillebrandt, eher technokratisch und weniger an den sozialen Aspekten des Bauens interessiert. Zwei Wohnhäuser, die er zusammen mit einem befreundeten Architekten im Stil der Moderne entworfen hat, entstanden Anfang der 1930er Jahre in Vockenhausen und Eppstein: Am Heiligenwald 2 und im Burkhardweg 8.
Eppsteins Museumsleiterin Monika Rohde-Reith weist darauf hin, dass Michels Einfluss auch in der ehemaligen Volkssschule, dem heutigen Rathaus II in der Rossertstraße, zu sehen sei, für das er mit dem damaligen Lehrer ein Konzept erarbeitet hatte. Sie freue sich nahezu täglich an Details wie den Treppenläufen oder den für die damalige Zeit modernen Fenstern und einer gewissen Asymmetrie der Architektur, obwohl die Bauausführung um 1929 einem eher konservativen Architekten übertragen wurde.
In Frankfurt haben sich im Jubiläumsjahr Museen und Sammlungen wie das Museum für angewandte Kunst, das Deutsche Architekturmuseum, das Jüdische Museum, das Historische Museum, das Institut für Stadtgeschichte, das Ernst-May-Haus und die Martin-Elsaesser-Stiftung zusammengeschlossen, um während des gesamten Jahres in zahlreichen Themen-Ausstellungen und Sonderveranstaltungen die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und den Geist des Aufbruchs und der Moderne in der heutigen Main-Metropole nachzuzeichnen.
Auch Ella Bergmann-Michel (EBM) war aktiv an Projekten und Publikationen des Bundes Neues Frankfurt beteiligt. Dieses Modernisierungs- und Gestaltungsprojekt unter der Federführung des Stadtbaurats Ernst May sollte nach den Gräueln des Ersten Weltkriegs die gesellschaftliche und gesamtkulturelle urbane Umgebung umgestalten. EBM dokumentierte mit ihrer Kamera die sozialen Aspekte der Architektur, etwa in ihrem Film „Wo alte Menschen wohnen“ über das damals nach den neuen Kriterien errichtete Budge-Heim in Frankfurt. Sie gehörte mit ihrer Freundin Ilse Bing zu den Netzwerkern der damaligen Kunst und Kulturszene. Schon zum Bauhaus-Jubiläum 2019 widmeten drei Frankfurter Museen der „Moderne am Main 1919-1933“ eine große Ausstellung – Mit dabei: die beiden Künstler aus der Schmelz.
In der Schmelzmühle, dem Heim der „Michelmänner“, wie sie liebevoll von Freunden genannt wurden, gingen damals Künstler der europäischen Avantgarde ein und aus: Kurt Schwitters, El Lissitzki, Moholy-Nagy und der russische Filmemacher Ziga Vertow. Willi Baumeister, Leiter der Frankfurter Städel Schule, gehörte ebenfalls zum Ring Neue Werbegestalter. Der Künstler Johannes Molzahn war der Patenonkel von Michels Sohn Hans.
In Paris widmet sich eine Ausstellung der Galerie Mouchet den grafischen Arbeiten der beiden Künstler aus den 1920er Jahren. Kurator Michael Honecker (MH) hat ein fiktives Interview mit dem Künstlerpaar geführt, wie sie die frühen gemeinsamen Jahre rückblickend gesehen haben mochten. Wir haben einige Ausschnitte daraus ausgesucht. Das vollständige fiktive Interview steht auf unserer Internetseite:
MH: Wann und wie habt ihr euch kennen und lieben gelernt?
EBM: Ich wollte schon von klein auf Künstlerin werden. Allerdings wusste ich, dass mein Vater und meine Stiefmutter mir nie erlaubt hätten, für ein Kunststudium das Elternhaus zu verlassen. Deshalb habe ich einen Trick angewandt und meine Eltern getäuscht, indem ich vorgab, nach Weimar zu gehen, um dort Musik zu studieren. Kaum dort angekommen, habe ich mich an der Großherzoglich Sächsischen Kunstschule in der Zeichenklasse von Walther Klemm angemeldet.
MH: Und du, RM, hast du dich auch dort zum Studieren angemeldet?
RM: Nein. Ich hatte eigentlich andere Pläne. Ich wollte Ingenieur werden und war von Technik und Fortschritt begeistert. Als junger Testpilot bin ich bei einem Testflug 1916 in einer sogenannten „Gothaer Taube“ abgestürzt und kam zur Rekonvaleszenz in ein Kriegslazarett. Der Zufall wollte es, dass dieses Lazarett in der Kunsthochschule in Weimar untergebracht war.… Leider konnte ich danach nie wieder selbst fliegen, aber ich habe durch meinen Absturz meine Liebe zur Kunst und nur wenig später zu Ella entdeckt. Zum Glück war es in Weimar wie auch in Stuttgart für Frauen möglich, Kunst zu studieren. Die Moderne war hier schon vor dem Bauhaus angekommen.
MH: Und dann kam das Bauhaus nach Weimar!
RM: Zunächst einmal wurde dieser furchtbare Krieg beendet und auch die Monarchie in Deutschland wurde abgeschafft und ganz plötzlich befand sich Weimar im Mittelpunkt der ersten deutschen Republik. Wir kannten übrigens Friedrich Ebert gut, der ein sozialdemokratischer Gewerkschafter war und der erste deutsche Präsident wurde.
Walter Gropius hatte von Weimar und vor allem von Henry van de Velde gehört, als er die Gründung einer Schule plante, die bildende und angewandte Kunst miteinander verbinden sollte. Bei seinem ersten Besuch in Weimar fuhr er im offenen Fiaker mit seiner Frau und dem Weimarer Bürgermeister durch die Stadt und ließ sich unter anderem zeigen, wo Künstlerinnen und Künstler ihre Ateliers hatten und so dauerte es nicht lange, bis er in der Schulstraße in Weimar vier Ateliers entdeckte.
EBM: Robert und ich hatten unsere Ateliers in derselben Straße gegenüber und wir waren nur durch drei Stufen voneinander getrennt, was Robert auf die Idee brachte, das „Weimarer Signet“ zu kreieren, diesen Stempel, der uns beiden als Unterschrift diente, oft in roter Farbe, den wir in verschiedenen Größen deklinierten und der auf den meisten unserer Werke aus dieser Zeit zu finden ist.
Neben RM und mir, hatten auch Johannes Molzahn und Karl Peter Röhl ihre Ateliers in unserer Straße. Walter Gropius war von der Qualität unserer Arbeiten so angetan, dass er mit uns vieren die erste Ausstellung des Bauhauses machte, um für seine neuen Ideen zu werben.
MH: Aber ihr habt Weimar danach dennoch sehr schnell verlassen?
EBM: Robert und ich haben kurz am Bauhaus studiert. Aber eigentlich waren wir bereits fertige Künstler und das Bauhaus war uns zu dogmatisch. Wir verließen Weimar. Einen weiteren Grund für unseren Umzug gab es auch. RM und ich haben 1919 in Weimar geheiratet und unser erstes Kind Hans war unterwegs. RM hat von seiner Familie die Schmelzmühle geerbt. Auf der Schmelz in Vockenhausen im Taunus leben wir bis heute und es ist kaum zu glauben, aber in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab sich hier ein Teil der europäischen Avantgarde die Klinke in die Hand.
MH: Und dann habt ihr Kurt Schwitters kennengelernt.
EBM: Das Kürtchen.
RM: Kurt war während der 1920er Jahre zusammen mit Johannes unser bester Freund. Er besuchte uns oft auf der Schmelz.
EBM: Kurt war einer meiner größten Bewunderer, er war sehr an meiner Arbeit interessiert. Ich selbst habe ihm später eine Serie von Bildern über Anna Blume gewidmet. Anna Blume und die Ursonate hat er immer wieder bei uns auf der Schmelz rezitiert.
RM: Ich habe mit ihm Hakenkreuze in den Schnee gepinkelt vor der Dorfkneipe, da verkehrten die ortsansässigen Nazis.
EBM: Kurt hat erste Werke von uns mit nach Amerika genommen und hat Kathrin S. Dreier überzeugt, uns in ihre Sammlung Konkreter Kunst aufzunehmen. Sie hat zusammen mit Man Ray und Marcel Duchamp die Société Anonyme gegründet und Wanderausstellungen in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika organisiert.
Ich war eine der sehr wenigen Frauen in der Sammlung und zusammen mit Kurt, Johannes und Willi Baumeister gehörten wir zu den etwa 30 deutschen Avantgarde-Künstlern in der Sammlung.
EBM: Ja, die Sammlungen und die Wanderausstellungen hatten uns dort bekannt gemacht, aber auch Ilse hat uns in den USA immer sehr geholfen.
MH: Ilse Bing, Mart Stam und du, Ella – ein magisches Dreieck
EBM: Ja, das kann man wohl sagen. Ohne Mart Stam hätte ich meine beste Freundin Ilse Bing vielleicht nicht kennengelernt. Mart Stam wusste, dass ich neben der Fotografie auch angefangen hatte, zu filmen. Mich haben Licht und Schatten interessiert. Beim Fotografieren und beim Filmen war ich dem Konstruktivismus sehr nahe. Mart hat mich gefragt, ob ich einen Werbefilm über das Budgeheim, ein von Werner Moser und ihm im Jahr 1929 gebautes Altenheim in Frankfurt, drehen könnte. Und während meiner Dreharbeiten im Budgeheim hat Ilse Bing fantastische Fotos im Haus gemacht. Leider musste Ilse, wie Kurt Schwitters und fast alle unsere anderen Künstlerfreunde auch, vor den Nazis fliehen. Sie hatte Glück und konnte mit einem der letzten Boote von Marseille aus nach New York fahren.
EBM: Als ich an meinem fünften filmischen Werk „Die letzte Wahl“ arbeitete, wurde ich von der politischen Polizei verhaftet. Filmmaterial wurde beschlagnahmt und vernichtet. Ich war 1932 dabei, die politischen Aufmärsche für die letzte freie Wahl in Deutschland vor der Machtergreifung der Nazis zu filmen, als ich verhaftet wurde. Schlagartig wurde uns klar, dass nichts mehr so war wie vorher. Düstere Zeiten zogen herauf.
RM: Unsere Kunst wurde nun als „entartet“ diffamiert.
EBM: Da wir in Deutschland blieben, mussten wir sehr diskret sein. Wir gingen „unter Wasser“. Robert fing erst wieder Mitte der 50er Jahre mit Kunst an und ich malte heimlich weiter. Unvorstellbar wie unser Leben ohne die Nazis verlaufen wäre.
Infos zu „100 Jahre Neues Frankfurt“ sind im Internet unter neuesfrankfurt100.de zu finden, zur Werkausstellung in der Galerie Mouchet unter www.ericmouchet.com.
bpa/Interview: Michael Honecker
Nachfolgend das komplette fiktive Interview:
MH: Liebe Ella, lieber Robert, schön, dass ich bei euch sein darf. Ich freue mich sehr, dass wir heute über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und euren engsten Künstlerfreundschaften sprechen werden.
RM: Ja, das ist eine große Ehre für dich und die Galerie. Je nach Lust und Laune empfange ich Kunsthändler und Kunsthändlerinnen und Galeristen und Galeristinnen mal oder schreie auch nur aus einem Dachfenster unserer Mühle, dass niemand Zuhause ist und sie zu einem besseren Zeitpunkt wieder vorbeikommen sollen.
MH (lacht): Lasst und doch zuerst über die älteste Künstlerfreundschaft reden und das ist natürlich eure eigene. Wann und wie habt ihr euch kennen und lieben gelernt?
EBM: Da muss ich ein bisschen weiter ausholen. Ich wollte schon von klein auf Künstlerin werden und neben einer musikalischen Erziehung habe ich auch sehr früh Malkurse in meiner Heimatstadt Paderborn und in Magdeburg besucht. Allerdings wusste ich, dass mein Vater und meine Stiefmutter mir nie erlaubt hätten, für ein Kunststudium das Elternhaus zu verlassen. Deshalb habe ich einen Trick angewandt und meine Eltern getäuscht, indem ich vorgab, nach Weimar zu gehen, um dort Musik zu studieren. Kaum dort angekommen, habe ich mich an der Großherzoglich Sächsischen Kunstschule1 in der Zeichenklasse von Walther Klemm angemeldet.
MH: Und du, RM, hast du dich auch dort zum Studieren angemeldet?
RM: Nein. Ich hatte eigentlich andere Pläne. Ich wollte Ingenieur werden und war von Technik und Fortschritt begeistert. Als junger Testpilot bin ich bei einem Testflug 1916 in einer sogenannten „Gothaer Taube“ abgestürzt und kam zur Rekonvaleszenz in ein Kriegslazarett. Der Zufall wollte es, dass dieses Lazarett in der Kunsthochschule in Weimar untergebracht war.
MH: Was für ein Schicksal und was für ein Glück, dass du diesen Absturz überlebt hast.
RM: Leider konnte ich danach nie wieder selbst fliegen, aber ich habe durch meinen Absturz meine Liebe zur Kunst und nur wenig später zu Ella entdeckt. Zum Glück war es in Weimar wie auch in Stuttgart für Frauen möglich, Kunst zu studieren. Die Moderne war hier schon vor dem Bauhaus angekommen.
MH: Wie meinst du das?
EBM: Henry van de Velde hat in Weimar eine private Hochschule gegründet und ein multidisziplinäres Studium eingeführt. Er hat für Walter Gropius fruchtbaren Boden hinterlassen. Leider war der Belgier Van de Velde gezwungen, Weimar nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges zu verlassen.
MH: Und dann kam das Bauhaus nach Weimar!
RM: Zunächst einmal wurde dieser furchtbare Krieg beendet und auch die Monarchie in Deutschland wurde abgeschafft und ganz plötzlich befand sich Weimar im Mittelpunkt der 1 Die Großherzoglich-Sächsische Kunstschule Weimar war eine per Statut vom 1. Oktober 1860 durch Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar gegründete Bildungseinrichtung künstlerischer Ausrichtung, die bis zum Jahr 1910 bestand. Danach wurde sie nach Reorganisation in den Rang einer Kunsthochschule erhoben und hieß fortan Großherzoglich-Sächsische Hochschule für Bildende Kunst in Weimar. Sie ist der Ursprung für die heutige Bauhaus-Universität Weimar.
ersten deutschen Republik. Wir kannten übrigens Friedrich Ebert gut, der ein sozialdemokratischer Gewerkschafter war und der erste deutsche Präsident wurde. Da war plötzlich viel Energie in der Luft und allerorten war man vom Fortschritt überzeugt. Walter Gropius hatte von Weimar und vor allem von Henry van de Velde gehört, als er die Gründung einer Schule plante, die bildende und angewandte Kunst miteinander verbinden sollte. Bei seinem ersten Besuch in Weimar fuhr er im offenen Fiaker mit seiner Frau und dem Weimarer Bürgermeister durch die Stadt und ließ sich unter anderem zeigen, wo Künstlerinnen und Künstler ihre Ateliers hatten und so dauerte es nicht lange, bis er in der Schulstraße in Weimar vier Ateliers entdeckte.
MH: Wieso vier Ateliers?
EBM: Robert und ich hatten unsere Ateliers in derselben Straße gegenüber und wir waren nur durch drei Stufen voneinander getrennt, was Robert auf die Idee brachte, das „Weimarer Signet“ zu kreieren, diesen Stempel, der uns beiden als Unterschrift diente, oft in roter Farbe, den wir in verschiedenen Größen deklinierten und der auf den meisten unserer Werke aus dieser Zeit zu finden ist. Neben RM und mir, hatten auch Johannes Molzahn und Karl Peter Röhl ihre Ateliers in unserer Straße. Walter Gropius war von der Qualität unserer Arbeiten so angetan, dass er mit uns vieren die erste Ausstellung des Bauhauses machte, um für seine neuen Ideen zu werben. Denn da war ja nichts mehr nach dem Ersten Weltkrieg. Alles musste neu anfangen.
MH: Aber ihr habt Weimar danach dennoch sehr schnell verlassen?
EBM: Robert und ich haben kurz am Bauhaus studiert. Aber eigentlich waren wir bereits fertige Künstler und das Bauhaus war uns zu dogmatisch. Wir verließen Weimar. Einen weiteren Grund für unseren Umzug gab es auch. RM und ich haben 1919 in Weimar geheiratet und unser erstes Kind Hans war unterwegs. RM hat von seiner Familie die Schmelzmühle geerbt, eine von 7 Farbenmühlen des Familienunternehmens. Auf der Schmelz in Vockenhausen im Taunus leben wir bis heute und es ist kaum zu glauben, aber in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab sich hier ein Teil der europäischen Avantgarde die Klinke in die Hand. MH: Lasst und noch einmal kurz nach Weimar zurückkommen und über Johannes Molzahn reden.
RM: Ach, der Johannes. Das war lange Zeit mein bester Freund und auch ein sehr guter Freund von Ella. Er malte futuristisch angehauchte Bilder, die von der menschlichen Figur und geometrischen Formen aus der Natur inspiriert waren und zwar in sehr leuchtenden Farbtonbereichen, die im Kontrast zu den damals bei den Konstruktivisten sehr beliebten Primärfarben standen. Auch Johannes hatte es nicht in Weimar gehalten. Er zog nach Magdeburg und später ging es für ihn weiter nach Breslau.
EBM: Wir haben Hans nach Johannes Molzahn benannt und Johannes war sein Patenonkel. Johannes hat seinen ersten Sohn Michael genannt und Robert war sein Patenonkel. Wir haben uns oft gegenseitig besucht und mit Briefen und Postkarten den Kontakt gehalten.
RM: Johannes wollte mich auch nach Magdeburg an die von Bruno Taut geleitete Universität holen, den wir vor allem wegen seines futuristischen Glaspavillons bewunderten, der 1914 in Köln im Rahmen der Werkbundausstellung gezeigt wurde. Leider funktionierte das nicht und schließlich zog Johannes nach Breslau. Später wurde er von den Nazis aus Deutschland vertrieben und flüchtete nach Amerika.
MH: Und dann habt ihr Kurt Schwitters kennengelernt.
EBM: Das Kürtchen.
RM: Kurt war während der 1920er Jahre zusammen mit Johannes unser bester Freund. Er besuchte uns oft auf der Schmelz und wir besuchten ihn, seine Familie und seine Kinder häufig in Hannover. Schon früh mit Dada in Verbindung gebracht, war sein Werk polymorph,
abstrakt und poetisch, vokal, grafisch und brutalistisch. Er schuf mehrere tausend Collagen aus wiederverwendeten Papierfragmenten, Zeitungsausschnitten und Werbebotschaften, die den damaligen Zugang zur Kunst neu konfigurierten.
EBM: Kurt war einer meiner größten Bewunderer, er war sehr an meiner Arbeit interessiert. Er hat in meinen farbigen Zeichnungen der 20er Jahre alle Farben des Regenbogens mit allen Zwischenstufen entdeckt und hat sofort erkannt, dass ich dadurch eine vollständig, klare und selbstverständliche Wirkung erreichen konnte. Darauf ließe sich eine Methode der Malerei gründen. Die neue Malerei würde nach meinen Anregungen die Gegensätze der drei Grundfarben überwinden und mit den Übergängen der Farben des Regenbogens neu bewerten. Davon war er fest überzeugt. Ich selbst habe ihm später eine Serie von Bildern über Anna Blume gewidmet. Anna Blume und die Ursonate hat er immer wieder bei uns auf der Schmelz rezitiert.
RM: Ich habe mit ihm Hakenkreuze in den Schnee gepinkelt vor der Dorfkneipe, da verkehrten die ortsansässigen Nazis. Und 1927 haben wir eine gemeinsame Hollandreise mit dem Auto gemacht. Kurt und ich haben gewürfelt um den Sitzplatz vorne bei Ella. Wir haben neben Mondrian, Mart Stam, Oud und Hannach Höch auch andere Künstler und Architekten besucht.
MH: Robert, Egidio Marzona hat in einem Interview erzählt, dass es unter deinem Sofa einen sagenhaften Umschlag gab. Kannst du uns mehr darüber berichten2?
RM: Kurt hat nicht nur an seinen Gedichten bei uns gearbeitet, sondern hat auch viel Kunst gemacht und er hat uns 15 Arbeiten hinterlassen. Die hatte ich alle in einem Umschlag aufbewahrt. Heute besitzen wir noch zwei dieser Arbeiten. Immer wenn es etwas auf der Schmelz zu reparieren gab oder wenn wir krank waren, dann mussten wir uns leider von Kunst trennen. Rechnungen wollten bezahlt werden und als Künstler hatte man keine Krankenversicherung.
EBM: Kurt hat erste Werke von uns auch mit nach Amerika genommen und hat Kathrin S. Dreier überzeugt, uns in ihre Sammlung Konkreter Kunst aufzunehmen. Sie hat zusammen mit Man Ray und Marcel Duchamp die Société Anonyme gegründet und Wanderausstellungen in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika organisiert. Die Sammlung wird heute an der Yale Universität aufbewahrt. Kathrin S. Dreier kaufte tatsächlich Werke von uns, aber erst mindestens fünfzehn Jahre später, nach Kriegsende, wurden wir dafür bezahlt! Ich war eine der sehr wenigen Frauen in der Sammlung und zusammen mit Kurt, Johannes und Willi Baumeister gehörten wir zu den etwa 30 deutschen Avantgarde-Künstlern in der Sammlung und waren die mit Abstand am besten vertretene Nation.
MH: Das erklärt auch, warum ihr bis heute in vielen bedeutenden Museen und privaten Sammlungen in den USA zu finden seid.
EBM: Ja, die Sammlungen und die Wanderausstellungen hatten uns dort bekannt gemacht, aber auch Ilse hatte uns in den USA immer sehr geholfen.
MH: Ilse Bing, Mart Stam und du, Ella – ein magisches Dreieck
EBM: Ja, das kann man wohl sagen. Ohne Mart Stam hätte ich meine beste Freundin Ilse Bing vielleicht nicht kennengelernt. Mart Stam wusste, dass ich neben der Fotografie auch angefangen hatte, zu filmen. Mich haben Licht und Schatten interessiert. Beim Fotografieren und beim Filmen war ich dem Konstruktivismus sehr nahe. Mart hat mich gefragt, ob ich einen Werbefilm über das Budgeheim, ein von Werner Moser und ihm im Jahr 1929 gebautes Altenheim in Frankfurt, drehen könnte. Und während meiner Dreharbeiten im Budgeheim hat Ilse Bing fantastische Fotos im Haus gemacht. Es war kein Zufall, dass sie dort
2 BRANICKA, Monika, RATHGEBER, Pirkko, 100 Fragen an Egidio Marzona, Merve Verlag, 2024
war. Mart hatte Ilse von mir erzählt. Die Chemie zwischen uns stimmte sofort und bis heute sind wir eng befreundet. Wir haben beide das Leben und das Abstrakte als Einheit angesehen. Leider musste Ilse, wie Kurt Schwitters und fast alle unsere anderen Künstlerfreunde auch, vor den Nazis fliehen. Sie hatte Glück und konnte mit einem der letzten Boote von Marseille aus nach New York fahren. Nach dem zweiten Weltkrieg hat sie uns Carepakete geschickt.
MH: Und Willi Baumeister, was konnte er außer Spätzle3 gut machen?
RM (lacht): Der Willi und ich hatten mehr als unsere Liebe zu den Spätzle gemeinsam. Er war ein sehr guter Maler, der die Gebote des Purismus gut verinnerlichte, sie an die menschliche Darstellung anpasste und dann abstrakt wurde. Wie ich war er auch ein hervorragender Werbekünstler und gehörte ebenso zum Ring Neuer Werbegestalter4, den wir bei uns hier auf der Schmelz gegründet hatten. Ebenso war er wie auch Mart Stam im Bund Das Neue Frankfurt, das war eine Initiative, die den Plan hatte, Frankfurt zu einer modernen und sozialen Stadt zu machen. Baumeister kam nach Frankfurt und übernahm dort die Leitung der Städel Schule. Ella und ich hatten unsere Ateliers damals in Frankfurt und Baumeister war auch oft zu Gast bei uns auf der Schmelz.
EM: Neben unseren Künstlerfreundenwie Schwitters, El Lissitzki und Moholy-Nagy kam auch der russische Filmemacher Ziga Vertow zu uns. Es war ein Melting Pot der europäischen Avantgarde. Als ich an meinem fünften filmischen Werk „Die letzte Wahl“ arbeitete, wurde ich von der politischen Polizei verhaftet. Filmmaterial wurde beschlagnahmt und vernichtet. Ich war dabei, die politischen Aufmärsche für die letzte freie Wahl in Deutschland vor der Machtergreifung der Nazis zu filmen, als ich verhaftet wurde. Robert setzte alle Hebel in Bewegung, um mich so schnell wie möglich frei zu bekommen. Schlagartig wurde uns klar, dass nichts mehr so war wie vorher. Düstere Zeiten zogen herauf.
RM: Unsere Kunst wurde nun als „entartet“ diffamiert. „Entartet“! Was für ein schrecklicher Begriff. Alles andersartige sollte ausgelöscht werden.
EBM: Da wir in Deutschland blieben, mussten wir sehr diskret sein. Wir gingen „unter Wasser“. Robert fing erst wieder Mitte der 50er Jahre mit Kunst an und ich malte heimlich weiter. Unvorstellbar wie unser Leben ohne die Nazis verlaufen wäre.
Anmerkungen der Redaktion:
Ella Bergmann-Michel: Geboren 1896 in Paderborn und gestorben 1971 in Vockenhausen auf der Schmelzmühle.
Ilse Bing: Geboren 1899 in Frankfurt am Main und gestorben 1998 in New York.
Willi Baumeister: Geboren 1889 in Stuttgart und gestorben 1955 in Stuttgart.
Robert Michel: Geboren 1897 in Vockenhausen und gestorben 1983 in Titisee-Neustadt.
Johannes Molzahn: Geboren 1892 in Duisburg und gestorben 1965 in München.
Karl Peter Röhl: Geboren 1890 in Kiel und gestorben 1975 in Kiel.
Kurt Schwitters: Geboren 1887 in Hannover und gestorben 1948 in Kendal, Cambria, England.
Mart Stam: Geboren 1899 in Purmerend, Niederlande und gestorben 1986 in Goldach, Schweiz.
3 Spätzle: traditionell zu Hause hergestellte Nudelspezialität aus Süddeutschland
4 Ring Neuer Werbegestalter: Der Ring Neuer Werbegestalter, ist eine Gruppe von Künstlern, die sich für die Förderung des Grafikdesigns engagierte, 1928 auf der Schmelz gegründet wurde und von 1928 bis 1931 zu Ausstellungen in ganz Europa beigetragen hat.
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