80 Jahre sind vergangen, seit am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg offiziell endete. Er kostete 60 Millionen Menschen das Leben, schlug tiefe Wunden in fast jede Familie.
Wie wohl das tägliche Leben in Eppstein direkt nach Kriegsende ausgesehen haben mochte? Rohde-Reith hat zusammen mit den Burgschauspielern und Gertrud Löns als Zeitzeugin einen lebendigen Spaziergang gestaltet. Die unterhaltsame, aber auch nachdenklich stimmende Reise in die Vergangenheit richtete den Scheinwerfer auf einzelne Schicksale und brachte sie in kurzen Spielszenen der Burgschauspieler zum Greifen nahe, machte das Unfassbare im wahrsten Sinne des Wortes „begreiflich“. Rohde-Reith zeigte hervorragend, welche Wellen die Weltgeschichte im Mikrokosmos der Kleinstadt schlugen.
Bilder aus schweren Zeiten lebendig in Szene gesetzt
Gleich am Bahnhof erlebten die Gäste die dramatische Rückkehr von Louise Schiemann, die als politische Gefangene aus der Haft zurück nach Hause kommt.
Für ihren historischen Osterspaziergang hatte Rohde-Reith viele Quellen ausgewertet und auch Hinweise auf das Schicksal von Willi Kistinger gefunden. In einer Spielszene unterhalten sich einige Bürgerinnen über ihn. Er kam bei Königsberg in russische Kriegsgefangenschaft, ein Jahr nachdem er seine Mutter beerdigt hatte, die zusammen mit 49 weiteren Personen bei der Bombardierung eines Personenzugs in der Nähe von Bremthal ums Leben gekommen war. „Es hätte die Bonzen treffen müssen, deren Zug im Tunnel den Angriff abgewartet haben“, klagte in der Szene vor dem alten Tunnel eine der Frauen. Tatsächlich sollen damals Nazi-Größen durch den Eppsteiner Tunnel gefahren sein.
Der US-Soldat Edwin Steeb hat Bilder und Impressionen aus seiner Eppsteiner Zeit hinterlassen. Er war im Haus der Familie von Gertrud Löns untergebracht, die während dieser Zeit zur Familie Ehlert ziehen musste. Deren Söhne und Tochter befanden sich noch in Gefangenschaft, es gab also freie Zimmer. Löns zeichnete ein lebendiges Bild der damaligen Situation. Die Amerikaner seien nicht feindselig gewesen, sondern freundlich zu den Kindern. Ihnen schenkten sie Schokolade und Kaugummi. Eine Schar Burgschauspielkinder übte lautmalerisch den wichtigen englischen Satz: „Schocklett plies“ (Schokolade, bitte) und tauchte später mit Schokoladenverschmierten Mündern in einer weiteren Szene wieder auf. Mitnehmen konnten die Löns nur einige Kleidungsstücke; die wertvollen Kartoffeln im Keller mussten sie zurücklassen.
Die Frage nach dem täglichen Brot war allgegenwärtig. Die Tagesration betrug nur 1300 Kilokalorien sowie 100g Fleisch pro Woche. Man stand Schlange für Lebensmittel, die je nach Lebenssituation zusätzlich rationiert waren. Über 150 ausgebombte Städter und rund 40 Flüchtlinge aus den Frontgebieten wurden bei Eppsteiner Familien untergebracht.
Einzelschicksale, deren ganze Tragik sich teilweise in nüchternen Zeilen eines amtlichen Eintrages verbirgt: Etwa der im Geburtenregister zu einer jungen Mutter namens Ida aus Ostpreußen, die hochschwanger mit zwei kleinen Kindern allein in der Burgstadt Aufnahme fand, wo sie ihr Kind zur Welt brachte.
Das Tagebuch der Künstlerin Ella Bergmann-Michel gibt direkte und sehr persönliche Einblicke. Am 27. April 1945 sei eine Stille eingetreten, aber die Straße an der Schmelz, die heutige B455, und das ganze Tal seien voller Menschen gewesen. Die amerikanischen Soldaten hatten Eppstein schon am 29. März 1945 erreicht. Bergmann-Michel hoffte, dass ihr Sohn bei den Amerikanern in Sicherheit sei, denn noch wenige Tage zuvor hatte man desertierende Soldaten erschossen.
Für Paul Schiemann kam die Befreiung zu spät. Er und seine Frau Louise waren von einem jungen Mann, den sie gastfreundlich aufgenommen hatten, denunziert worden. Sie wurden angeklagt, weil Paul in einem sehr persönlichen Gespräch dem jungen Mann erklärt hatte, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Ein Verbrechen in den Augen der Nazis, für das man damals hingerichtet werden konnte. In der Verhandlung meinte der Anwalt zu Louises Schwester: „Beten Sie, dass die Amerikaner schneller sind als der Volksgerichtshof“. Paul und Louise kamen ins Gefängnis. Doch während Louise später freikam, starb Paul entkräftet am 18. Mai 1945 an Typhus, nach einem Todesmarsch ins Zuchthaus Straubing, so Emmi Meixner-Wülker, die Tochter Paul Schiemanns. Berührend die Spielszene dazu, in der Louises Schwester anklagend von dem erlittenen Leid berichtet.
Rohde-Reith erinnerte an weitere Eppsteiner, die Opfer des NS-Regimes wurden, darunter der jüdische Bürger Moritz Bäck mit seiner Frau sowie das Kind der Zwangsarbeiter, das in Bremthal starb. Nach Kriegsende war die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Der von den Nazis vertriebene Bürgermeister Fritz Maul wurde von den Amerikanern wieder ins Amt befördert. Vor dem ehemaligen Rathaus, in dem heute die Weinpresse und der Verlag der Eppsteiner Zeitung untergebracht sind, klagte Fritz Maul in einer Spielszene über die Flut von Verordnungen.
Rohde-Reith hatte für ihre Inszenierung des Osterspaziergangs nüchterne Einträge im Stadtarchiv über Anordnungen der Militärregierung an Landrat und Bürgermeister anschaulich in Szene gesetzt. Der damalige Bürgermeister hatte zusammen mit einigen anderen Bürgern die schwierige Aufgabe, seine Eppsteiner in Opfer, Mitläufer und überzeugte Nazis zu sortieren. Denn Denunziation und Ungerechtigkeit waren seinerzeit von Nachbarn begangen worden. Nachbarn, mit denen man aber irgendwie weiterleben musste.
Gerecht waren die Entscheidungen in dieser Zeit ohnehin nur bedingt. Manch einer kam ungeschoren davon, so wie der junge SS-Mann, dem man die Mitgliedschaft als jugendlichen Eifer nachsah. Andere erhielten lange Haftstrafen. Je länger die Entnazifizierung dauerte, umso glimpflicher kamen die Akteure davon. Einfach war das Zusammenleben keinesfalls.
Eine weitere Spielszene stellte dies eindrucksvoll unter Beweis. Man stritt, weil man als Alt-Nazi nicht mehr im Chor erwünscht war, ein anderes Mal unterstellte man sich untereinander Diebereien. „Die Fremdarbeiter haben die Kaninchen geklaut“, „die Niederjosbacher treiben mit Kaninchenfellen Handel“ tobte der Tumult, den Bürgermeister Maul in der Spielszene auf der Burg zu schlichten versuchte. Der örtliche Jäger beklagte den Einzug seiner Waffe, stahl einen alten Vorderlader aus dem Museum und ließ es knallen.
Versöhnliche Töne ließ Caren Lewinsky mit dem Eppstein-Lied in der Hintergasse mit ihrer Ukulele erklingen. „Über Eppsteins roten Dächern thront die Burg mit hohem Turm“. Dort tranken die Gäste zum Abschluss der Veranstaltung noch ein Gläschen Wein in der Juchhe, dem Vereinsraum der Burgschauspieler und ließen das Erlebte Revue passieren.
„Dieser Spaziergang war sehr lebendig, informativ und toll in Szene gesetzt. Das war absolut passend zum 80sten Jahrestag des Kriegsendes“, meinte Karin Manser, die zusammen mit Dieter Braun aus Wildsachsen gekommen war. Braun fand das Konzept großartig, vor allem den Auftritt von Zeitzeugin Gertrud Löns. Er selbst hat als Kind die Nachkriegszeit in Schwerin erlebt. Auch die Russen seien zu den Kindern freundlich gewesen. Man wolle es nächstes Jahr wie im Refrain des Eppstein-Liedes von Caren Lewinsky halten: „Sind die Zeiten auch schwer, ich komme immer gerne wieder her“. ffg
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