Das Sonnenlicht des Spätnachmittages brach durch die bunten Bleiglasfenster und illuminierte die mit blauen und gelben Wiesenblumen, den Farben der Ukraine, geschmückten Vasen am Altar. Das Klavier wartete auf Oksana Tarasova und Anna Victoria Tyshayeva. Zwei Notenpulte standen für die Violinisten Michel Gershwin und Igor Mishurisman bereit.
Die Kulisse passte auf wenige Quadratmeter, doch das zahlreich erschienene Publikum kam in den Genuss von Kompositionen für große Konzerthäuser. Die Pianistinnen übernahmen den Orchesterpart. Klassische Werke von Vivaldi, Haydn, Rossi, Bach und zeitgenössische Kompositionen von Ralph Vaughan Williams, Roxana Panufnik und Myroslav Skoryk sollten zu Spenden für die ukrainische Hilfsorganisation „M Corporation“ animieren. Gelder aus Eppstein werden so in Odessa zu Rucksäcken mit medizinischer Notausrüstung, zu Medikamenten und zu Hoffnung für Menschen im Kriegsgebiet.
Den Anfang machte „Die aufsteigende Lerche“ des englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams. Sie selbst war ein kriegsgeschädigter Vogel, denn die Arbeit an dem Orchesterstück lag seit Beginn des Ersten Weltkrieges brach. Erst 1921 fand die Uraufführung statt.
Bereits wenige Töne der Violine, die Igor Mishurisman meisterhaft beherrscht, ließen die Blicke der Anwesenden im Kirchengestühl schmelzen. Das feine und seelenvolle Solo, begleitet von Oksana Tarasova am Klavier, entlud sich als poetisches Gedicht für drei Hände und einen Bogen. Die plastischen Eindrücke vom Bild der Lerche am Morgen, dem Aufplustern des Gefieders, dem freien Flug, dem jubilierenden Trillern und der sanften Landung im Feld berührten das Publikum. Trotz des Gefühls, dass die Lerche unbeschwert tschilpte, vergaß niemand die Schatten des Krieges. Über 20 Prozent ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen hat die „Kornkammer Europas“, wie die Ukraine genannt wird, seit Februar 2022 verloren. Die Felder sind verwüstet. Wo Saatgut sein sollte, ist die Erde vermint und von Kampfmitteln kontaminiert.
Michel Gershwin und Igor Mishurisman begeisterten während des Konzerts mit Raffinesse und Intensität. Die winzigsten Details der Partitur schliffen die Künstler heraus und inszenierten diese kunstvoll in ein Harmoniegerüst, wobei sie warmes Timbre und metallisch harte Klarheit im furiosen Wechsel aufboten. Beide agierten in ihren Soli virtuos und majestätisch. Geigenbögen verwandelten sich zum klangmalenden Pinsel oder zum Skalpell, was die Töne bis in die feinsten Facetten sezierte.
Oksana Tarasova und Anna Tyshayeva entlockten dem Klavier schwärmerische Fülle und gesättigte Eleganz. Ästhetisch, elegisch oder sich beim Illustrieren schlank zurücknehmend, machte ihr exzellentes Spiel die Talkirche zur Elbphilharmonie.
Atemlose Stille herrschte im Publikum. Kein Fuß scharrte, kein Husten wagte sich hervor, kein Flüstern brach den Zauberbann. Das Publikum schwieg. Viele gingen mit geschlossenen Augen in sich, wo Sehnsucht, Trauer oder Erinnerung wohnen. Manche saßen, als seien sie in Meditation versunken. Einige tasteten nach der Hand des geliebten Menschen neben sich. Ein kleiner Junge schmiegte sich in die Arme seiner Großmutter und lauschte.
Auch der ukrainische Komponist Myroslav Skoryk bekam mit seinem Werk „Melodie“ eine Stimme. Anna Tyshayeva und Igor Mishurisman, die beide aus Odessa stammen, ließen viel Raum für Assoziationen. Vielleicht floss sie mit ein, die Schönheit des Landes am Schwarzen und Asowschen Meer, die Anmut der Weizenfelder, vielleicht die Sophienkathedrale und das Höhlenkloster in Kiew, das Hügelland des Donezbeckens, die malerischen Küstenregionen und die Karpaten mit ihren uralten Wäldern. Jeder Ton fragte danach, was noch unberührt ist vom Krieg.
Die ukrainische Hauptstadt Kiew und die Burgstadt Eppstein liegen ungefähr 1870 Kilometer auseinander. Der Blick des Publikums auf die linke Seite der Talkirche lag ganz nah. Dort hängen die Gedenktafeln für die gefallenen Eppsteiner der beiden letzten Weltkriege. Dass nichts ganz weit weg ist, schlug sich möglicherweise in den Gedanken der Zuhörerschaft nieder.
Die Musizierenden mit Geige und Klavier bewegten emotional. Sie öffneten Fenster ins Innere. Sie verführten, schlossen Herzen auf und rissen an Schubladen der Seele, die sonst keiner anrühren möchte. Nach dem Schlussakkord herrschte Schweigen, darauf zögerlicher Applaus, der dann in Bravorufen mündete.
„Was für ein großes Konzert. Wir haben erlebt, was Musik bewirkt, dass Musik Menschen verbindet. Musik birgt Gefühle, Vision und Hoffnung, dass wieder Frieden einzieht“, so brachte die evangelische Pfarrerin Heike Schuffenhauer ihre Begeisterung zum Ausdruck.
Sie hieß auch die anwesende Autorin Birgit Gröger willkommen, welche in Kelkheim zu Hause ist und in ihren Kinderbüchern „Alima, das Mädchen aus Aleppo“ und „Alles wird wieder gut, Kateryna“ Schicksale wie Flucht und Krieg thematisiert.
Ein Benefizkonzert wie dieses möchte dazu beitragen, dass die verwaisten Plätze, die zerstörten Städte und die verängstigen Träume wieder Orte werden voller Lebendigkeit.
Das Ensemble wurde von Pfarrerin Heike Schuffenhauer mit Mozart-Schokolade bedacht, weil die Gagen der Künstlerinnen und Künstler als Spende in den Erlös des Konzerts einfließen. Wer die Hilfsorganisation „M Corporation“ unterstützen möchte, kann dies mit einer Spende auf folgendes Konto tun: Ev. Talkirchengemeinde Eppstein, IBAN: DE815105 00150225022224, Stichwort: Odessa. Ab einer Spendenhöhe von 50 Euro wird eine Bescheinigung ausgestellt.
Die Talkirche lädt erneut ein: Musikbegeisterte können sich am Samstag, 30. August, um 18 Uhr auf das „twentytwo-ensemble“ freuen. Zehn ehemalige Mitglieder des Dresdner Kreuzchores präsentieren ihr Programm „Echo des Sommers“. Es erklingen klassische, geistliche und humorvolle Melodien. Der Eintritt ist frei. Spenden sind den Veranstaltern willkommen.Uta Kindermann
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