„Wo die Freiheit selbstverständlich ist, verliert sie an Wert“

Nargess Eskandari-Grünberg im Gespräch mit Besuchern ihres Vortrags.Foto: Ulrich Häfner

Nargess Eskandari-Grünberg im Gespräch mit Besuchern ihres Vortrags.Foto: Ulrich Häfner

Auf Spurensuche begab sich Nargess Eskandari-Grünberg, Bürgermeistern in Frankfurt, bei ihrem Vortrag „Sehnsucht oder Verdruss – ein Blick auf die Demokratie“ im Emmaus Gemeindezentrum. Im Iran geboren erfuhr die 60-Jährige am eigenen Leib, was es bedeutet, in Unfreiheit zu leben.

Ihr Vortrag geriet zum flammenden Appell, sich für die Demokratie einzusetzen. Gemeindemitglied Cina Farhangyar – ebenfalls mit iranischen Wurzeln – stellte die prominente Rednerin in der Reihe „Über Gott und die Welt“ dem Publikum vor: Als Schülerin beteiligte sie sich an Protesten gegen den Schah und nach dessen Sturz gegen das Mullah-Regime. Sie wurde verhaftet und verbrachte anderthalb Jahre im berüchtigten Evin-Gefängnis, in dem sie ihre Tochter Maryam Zaree zur Welt brachte. Nach ihrer Freilassung im Jahr 1985 floh sie mit ihrer zweijährigen Tochter nach Frankfurt, wo sie sich ein neues Leben aufbaute. Bevor sie in die Politik ging, studierte sie Psychologie, promovierte und führt eine eigene Praxis als psychologische Psychotherapeutin.

2023 wurde die grüne Politikerin als erste Geflüchtete bundesweit zur Bürgermeisterin gewählt. In ihrem Büro genießt sie den Blick auf die Paulskirche, Symbol der deutschen Demokratiebewegung und der Ort, an dem die Frankfurter Nationalversammlung tagte und 1849 eine Verfassung mit bürgerlichen Rechten für den geplanten Nationalstaat verabschiedete. Etwas Ähnliches würde sie sich auch für den Iran wünschen. Sie erinnerte an Jina Mahsa Amini, die junge Frau, die ihr Kopftuch nicht vorschriftsmäßig trug und 2023 durch Schläge auf den Kopf in der Haft ermordet wurde. Darauf folgten massive Proteste auf den Straßen Teherans. „Um sich für Freiheit und Selbstbestimmung einzusetzen, warfen die Frauen ihr Kopftuch weg, demonstrierten und schnitten sich die Haare ab“, berichtete sie. Doch die Proteste wurden im Keim erstickt. Ohne Rechte gebe es keine Freiheit. Frauen im Iran müssen Kleiderordnungen beachten, dürfen nicht auf die Straße gehen, nicht lieben, wen sie wollen, oder Bücher lesen. Dagegen lebten die Menschen in westlichen Demokratien in Freiheit. „In solchen Zeiten vergessen wir manchmal, dass Selbstbestimmung existenziell ist“, sagte sie. Freiheit sei nicht nur ein Konzept, sondern ein Grundbedürfnis.

Gerade junge Leute im Iran hungerten nach Freiheit, aber ohne Widerstand hätten sie keine Möglichkeit dazu. Sie bewundere den Mut jedes Einzelnen, der sich den strengen Regeln des Mullah-Regimes widersetze. „Dort wo die Freiheit selbstverständlich ist, verliert sie an Wert. Wo sie unterdrückt wird, wird sie zur treibenden Kraft“, so die Referentin. In Deutschland sei Freiheit ein Zustand, im Iran ein Ziel.

Doch angesichts rechter Bestrebungen und spaltender Tendenzen sieht sie auch in Deutschland die Demokratie in Gefahr: „Freiheit ist kein Geschenk oder Naturzustand, sondern Verantwortung“, mahnte sie. Sie müsse stets aufs Neue erlernt und verteidigt werden.

Bei jungen Menschen in Deutschland, die nie für ihre Freiheit kämpfen mussten, beobachtet sie Desinteresse am Gemeinwohl und an der Politik. Sie riet dazu, an den Schulen nicht nur Unterrichtsstoff, sondern auch Werte zu vermitteln. Solidarität etwa sei ein Grundpfeiler der Menschlichkeit.

„Wir leben in einer Welt in der Gemeinschaft verloren geht“, bekräftigte sie in der Fragerunde nach ihrer mit reichlich Applaus bedachten Rede. Kinder begegneten sich oft schon gar nicht mehr persönlich. „Kinder im 2. Stock spielen online mit Kindern im 3. Stock“, hat sie in Frankfurter Wohngebieten beobachtet. „Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, aber Angebote machen.“ Eskandari-Grünberg hat deshalb den Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zur Priorität gemacht und geht regelmäßig an Schulen, um dort zu diskutieren. Außerdem setzt sie sich für Räume ein, in denen junge Menschen einander begegnen können.

Auf die Frage, welche Möglichkeiten sie habe, heute im Iran zu leben, sagte die Exilantin, dass sie das Land gern besuche, sich aber nicht vorstellen könne, dort zu leben. Hier habe sie Familie, Freunde und Werte, die sie mit anderen teile. „Der Iran ist meine Kinderheimat, Deutschland meine Erwachsenenheimat“.mi

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